Kulturstiftung des Bundes Staatliche Museen zu Berlin – Preußisher Kulturbesitz

lab.Bode möchte den kunsthistorischen Kanon des Museums erweitern, die Museumspraxis und -erfahrung verändern und dadurch vielfältige Auseinandersetzung mit Kunstwerken und Objekten ermöglichen. So geht es nicht vorrangig um die Vermittlung von Wissen durch das Museum. Schüler*innen werden vielmehr als Wissensträger*innen eingebunden und Skulpturen gemeinsam zum Sprechen gebracht. Wenn Kunstvermittlung einen Rahmen für Austausch und Beziehungen schafft, können Vermittlung und Lernen als ein gemeinschaftlicher Prozess etabliert werden, in dem auch das Museum eine lernende Institution ist, die ihre Machtstrukturen zur Disposition stellt.

Über den Unterschied von Wissen und Bildung sowie das Potential von transformatorischen Bildungsprozessen spricht Hans-Christoph Koller. Wie die Strategie des Verlernens als Bildungsprozess verstanden werden kann, diskutieren María do Mar Castro Valera und Nikita Dhawan. Aus der Perspektive der Museum Studies fragen Sharon Macdonald und Michael Beaney, was Museumsobjekte überhaupt sind und was es bedeutet, mit ihnen zu sprechen. Anhand des Projekts Talking Feet reflektieren wir, wie künstlerische Arbeitsweisen transformatorische Bildungsprozesse ermöglichen und alternatives Wissen durch verschiedene Stimmen im Museum hörbar wird.

Warum braucht es verschiedene Formen der Wissensproduktion im Museum?
Warum ist es wichtig, Bildungsprozesse zu initiieren, in denen es nicht allein um Wissensaneignung geht? Was wird dabei gelernt? Gibt es „Rezepte“ für erfolgreiche Bildung? Fragen, um die es im Gespräch mit Hans-Christoph Koller, Professor für Erziehungswissenschaft (Universität Hamburg), geht. Zentral ist dabei seine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse: Angestoßen durch Krisenerfahrungen kann es bei diesen zur Veränderung unseres Verhältnisses zur Welt, zu anderen und zu uns selbst kommen.
„Breaking the Rules. Bildung und Postkolonialismus.“ – diesen Grundlagentext einer dekolonialisierenden Pädagogik diskutieren María do Mar Castro Varela (Alice Salomon Hochschule Berlin) und Nikita Dhawan (Justus-Liebig-Universität Gießen) in einem Gespräch: Warum braucht es in einer von Globalisierung und Migration geprägten Gesellschaft eine Kunstvermittlung, die die postkoloniale Verfasstheit unserer Welt ernst nimmt? Wie kann die Strategie des Verlernens als Bildungsprozess verstanden werden?
In der digitalen Publikation, die zentrale Fragestellungen der Kulturvermittlung vorstellt, wird Kunstvermittlung als ein Rahmen für Austauschbeziehungen reflektiert, in dem die Rollen Lehrender und Lernender in Bewegung kommen. Das geschieht, wenn kulturelle Produktionen nicht nur verschiedenen Öffentlichkeiten vermittelt werden, sondern diese selbst als Wissensträger*innen eingebunden sind. Das Institute for Art Education (Leiterin Carmen Mörsch) der Zürcher Hochschule der Künste hat das Programm wissenschaftlich begleitet.
Was bedeutet es, mit Objekten zu sprechen? Was sind überhaupt Museumsobjekte und wie können wir ihnen mit mehr Aufmerksamkeit begegnen? Welche Rolle spielen sie in unserem Denken? Wie können wir lernen, besser mit ihnen zu reden? Und wie können Antworten auf diese Fragen die Museumspraxis und unsere Museumserfahrung verändern? Anthropologin und Museologin Sharon Macdonald und Philosoph und Ontologe Michael Beaney kommen miteinander – und mit anderen Objekten – zu diesen Fragen ins Gespräch.
Wie kann alternatives Wissen im Museum produziert werden?
Hört auf die Füße! Wie hört man den Füßen zu? Was sagen sie? Was passiert dabei? Mit dem Projekt Talking Feet bringt die Künstlerin Mathilde ter Heijne Skulpturen zum Sprechen. Spielerisch stellt sie Konventionen des Museums auf den Kopf und dreht den Vorgang des Betrachtens um. Zuerst sprechen die Füße über ihre Figur. Dann kommen die Perspektiven und Gedanken der Schüler*innen über die Füße und Skulpturen hinzu. Durch das partizipative Element werden verschiedene Stimmen im Museum hörbar.
Neben „Talking Feet“ gibt es weitere lab.Bode-Schulprojekte, in denen Schüler*innen als Wissensträger*innen aktiv eingebunden sind. Das „Bode-ABC“ stellt neue Ordnungssysteme für das Bode-Museum vor und sensibilisiert damit für die Konstruktion des Museums. Durch alternative Saalzettel von Schüler*innen erweitert „Dichter dran!“ die Narrationen im Sammlungsrundgang. Fragen der Repräsentation wurden mit der Ausstellung „anders sein“ verhandelt, in der Porträtbüsten der Schüler*innen die Exponate im Bode-Museum ergänzten. Ausführliche Reflexionen zu den genannten Projekten finden sich in den Themenfeldern Mehrstimmigkeit herstellen und Diskriminierungskritisch arbeiten.

Das Projekt „Talking Feet“

Hört auf die Füße! Wie hört man den Füßen zu? Was sagen sie? Was passiert dabei? Mit dem Projekt Talking Feet bringt die Künstlerin Mathilde ter Heijne Skulpturen zum Sprechen. Spielerisch stellt sie Konventionen des Museums auf den Kopf und dreht den Vorgang des Betrachtens um. Zuerst sprechen die Füße über ihre Figur. Dann kommen die Perspektiven und Gedanken der Schüler*innen über die Füße und Skulpturen hinzu. Durch das partizipative Element werden verschiedene Stimmen im Museum hörbar.

Talking Feet – sprechende Füße im Bode-Museum

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Video Langfassung von Antonia Lang

Talking Feet: Erzengel Gabriel (Gabriela)

Hörspiel für den Talking Feet: Der Heilige Georg

Projektdokumentation
Projektdokumentation „Talking Feet“

Die Künstlerin Mathilde ter Heijne ließ im Rahmen ihrer lab.Bode-Residency Füße von achtzehn Skulpturen aus dem Bode-Museum reproduzieren. Sie fragte Schüler*innen sowie Mitarbeiter*innen des Museums: Was erzählen diese Füße? Aus den verschiedenen Antworten entwickelte sie Texte, die von professionellen Sprecher*innen eingesprochen wurden, und in Form von Miniaturhörspielen über Lautsprecher aus den Fußskulpturen zu hören sind.

Im Rahmen des Projekts „Talking Feet“ setzten sich die Schüler*innen intensiv mit Mathilde ter Heijnes sprechenden Fußobjekten und den dazugehörigen Skulpturen auseinander. Die Geschichten und Fragen der sprechenden Füße waren die Basis der Schüler*innen, um Bezüge zur ihrer Lebenswelt herzustellen, ihre Vorstellungen verbal auszudrücken und eigene Geschichten zu entwickeln. Zu Beginn des Workshops wählte sich jede*r Schüler*in ein Talking Feet-Objekt aus, das sie zunächst selbständig erforschten. Im nächsten Schritt setzen sich die Schüler*innen in Bezug zu den Objekten, indem sie die Audio-Files in den Füßen mit ihren eigenen Gedanken und Kommentaren ergänzten. Am zweiten Tag lernten die Schüler*innen in Kleingruppen drei mit Robotertechnik fahrende Skulpturenfüßen kennen und entwickelten für diese ein kleines Hörstück. Die Schüler*innen erweiterten so den Blick, den Künstlerin, Kurator*innen und Vermittler*innen auf die Füße und somit auf die Museumsobjekte haben. Ein Besuch der originalen Skulpturen im Bode-Museum, der die Arbeit in der Schule ergänzen sollte, konnte wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden.

 

Objektbezug

Über die Talking Feet beschäftigten sich die Schüler*innen mit achtzehn Skulpturen aus dem Bode-Museum, die unter spezifischen Schwerpunkten in den Blick genommen wurden: Reiterstandbild des Großen Kurfürsten (Macht), Generalfeldmarschall Jakob von Keith (Machismus), Aktstudie einer schreienden Frau (Schmerzen), Maria Magdalena (Mensch), Erzengel Gabriel (Zukunft), Christuskind mit Herz (Götter und Göttinnen), Dismas (Verbrechen), Kanzelträger (Bürde), Heiliger Wendelin (Reichtum), Heiliger Sebastian (Schutz), Heiliger Michael (Sieg), Raub der Proserpina (Unterwelt), Amor (Kriegsschäden) und Venus (Keuschheit). Ein besonderer Fokus während der Gruppenarbeiten lag auf Diana als Jägerin, Daphne und dem heiligen Georg. Die Miniaturhörspiele aus den integrierten Lautsprechern der Füße transportieren Erzählungen, Informationen und Fragen über die dazugehörigen Skulpturen. Diese Erzählungen produzieren Imaginationsräume, in denen die Hörenden durch Fragen und direkte Ansprache immer wieder adressiert werden: „Weißt Du wo das Land Preußen lag?“ „Wie ist es, wenn Dich jemand herablassend behandelt?“ „Gibt es einen Unterschied zwischen Menschen und Tieren?“ „Kennst Du mehrere Götter oder Göttinnen?“ … Die Fragen sind Anlass, um den Hörstücken eigene Antworten und Gedanken hinzuzufügen. In Kleingruppen erarbeiteten die Schüler*innen im zweiten Teil des Workshops zudem eigene kleine Hörspiele mit Texten, Klängen und Audioeffekten.

Formen der Zusammenarbeit

Fanny Ditscherlein, Lehrerin an der Sophie-Brahe-Gemeinschaftsschule, hatte bereits mit einer Klasse an einem „Talking Feet“ Schulprojekt im Bode-Museum teilgenommen und ebenfalls Interesse das etwas anders konzipierte Projekt in ihrer Schule zu realisieren. Die Besonderheit dieses Projektes war, dass die Skulpturen in Form der Fußobjekte das Bode-Museum verließen und in die Schule wanderten. In der Aula haben die Schüler*innen gemeinsam mit der Künstlerin Mathilde ter Heijne und dem Radiomacher Norbert Lang (unterstütz von Felicitas Fritsche-Reyrink und Beate Slansky, Team lab.Bode)mit den sprechenden Füßen gearbeitet und die Fußskulpturen um ihre Perspektiven und Stimmen erweitert.

Unterrichtsbezug / Bezug zu kompetenzbezogenem Lernen

Das Projekt hatte direkte Anknüpfungspunkte zu den Fächern Kunst, Musik, Deutsch und Geschichte. Kunstbetrachtung und Kunstrezeption wurden durch das Erforschen der Talking Feet, den dazugehörigen historischen Skulpturen und deren Kontexte aktiv und entdeckend sowie instruktiv und didaktisch gefördert. Für die Konzeption und Produktion der Hörspiele war ein kreativer Wissenstransfer wichtig, aber auch Medien- und Sprachkompetenz konnten erweitert werden. Die Schüler*innen entwickelten kurze Geschichten mit dramaturgischen Elementen, experimentierten für die Aufnahmen mit Sound und machten zum Einsprechen kleine Sprech- und Stimmübungen. In den Kleingruppen mussten Ideen und Rollen miteinander abgesprochen und verhandelt werden. Aber auch in der individuellen Arbeit mit einem eigenen Audio-Fuß und der Präsentation in der Gruppe waren Mut und Empathie, gegenseitiger Respekt und Anerkennung für die einzelnen Beiträge und Leistungen wichtig für eine produktive Zusammenarbeit.

Methodische Herangehensweise

Die Audio-Fußobjekte bieten vielseitige Zugänge auf der Ebene der Rezeption: Sie sind haptisch erfahrbar, können angefasst und bewegt werden. Über die Miniaturhörspiele transportierten sich Hintergründe zu den originalen Skulpturen aus dem Bode-Museum auf leichte, erzählerische, aber auch vielschichtige und humorvolle Weise. Über die an die Hörenden gerichteten Fragen werden direkte Bezüge zur eigenen Lebenswelt, Erfahrungen und Wissen hergestellt. Im Workshop wurden Methoden des kreativen Schreibens angewendet, aber auch Elemente des darstellenden Spiels und der Musik waren eingebunden.

Projektphasen

Termin: 20.8.2020 | Dauer: 4,5 Std. | Ort: Sophie-Brahe-Gemeinschaftsschule Aula (zzgl. Klassenraum und Innenhof)
Kennenlernen der Talking Feet (Audio-Fußobjekte), Einzelarbeit: Audio-Files anhören und eigene Antworten aufnehmen, Präsentation in der Gruppe

Termin: 21.8.2020 | Dauer: 4 Std. | Ort: Sophie-Brahe-Gemeinschaftsschule Aula (zzgl. Klassenraum und Innenhof)
Arbeit in drei Kleingruppen: Kennenlernen von drei mit Robotertechnik fahrende Audio-Fußobjekte, Audio-Files anhören, kurze Hörspiele entwickeln und aufnehmen

Termin: N.N. | Dauer: 2–3 Std. | Ort: Museum
Besuch der Skulpturen im Bode-Museum (musste wegen der Corona-Pandemie ausfallen, da das Museum geschlossen war)

Sichtbarkeit/Künstlerische & praktische Arbeiten

Während des Projekts sind sowohl individuelle Audio-Files für die Audio-Fußobjekte Talking Feet mit Antworten auf Fragen sowie eigenen Gedenken entstanden. In Kleingruppen wurden zudem kurze Hörspiele für drei mit Robotertechnik fahrende Audio-Fußobjekte konzipiert und produziert. Während des Workshops wurden einige Zwischenergebnisse in der Gruppe vorgestellt. Aufgrund der Corona-Pandemie konnte eine Präsentation im Bode-Museum nicht stattfinden. Es soll jedoch eine Broschüre zum Projekt „Talking Feet“ geben. Spätestens zum lab.Bode finale sollen die Audio-Fußobjekte im Ausstellungsrundgang des Bode-Museums präsentiert und die Stimmen der Schüler*innen hörbar werden.

Räume der Vermittlung / Projektsettings

In der Sophie-Brahe-Gemeinschaftsschule wurde die Aula genutzt, zudem standen für Einzelarbeiten und die Arbeit in Kleingruppen ein Klassenraum, Rückzugsorte im Schulgebäude sowie der Innenhof zur Verfügung.

Ressourcen: Technik und Verbrauchsmaterialien

Technik: 18 Talking Feet (Audio-Fußobjekte), 2 Aktivboxen, 1-3 Audioaufnahmegeräte, 1 Mobilrekorder, 1 Mikrofon, Laptop, Midi Controller, Midi-Mini Keyboard

Verbrauchsmaterial: Bleistifte, weißes Din A4-Papier, Kopien mit Fotografien der Originalskulpturen

Ressourcen: Honorare

2 freie Mitarbeiter*innen (1 Künstlerin, 1 Radiomacher)
jeweils 4 Stunden Vorbereitung, 8,5 Stunden Durchführung, 1 Stunde Nachbereitung, 1 Stunde Sichtbarmachung im Projektverlauf, 2 Stunden Dokumentation und Reflexion, 8 Stunden Nachbearbeitung der Audio-Files

Projektkoordination (Wissenschaftliche Mitarbeiter*in lab.Bode:
Maralena Schmidt, Felicitas Fritsche-Reyrink; Technische Unterstützung (Technische Mitarbeiterin lab.Bode): Beate Slansky
Workshopleiter*innen (Freie Mitarbeiter*in):
Mathilde ter Heijne, Künstlerin und lab.Bode-Resident; Norbert Lang, Radiomacher
Projektzeitraum:
20.–23.8.2020
Termine & Dauer:
Tag 1: 4,5 Std. Tag 2: 4 Std. Tag 3: 2–3 Std. (ausgefallen)
Schule:
Sophie-Brahe-Gemeinschaftsschule
Klasse/Lehrkraft:
Klasse 6 / Fanny Ditscherlein
Gruppengröße:
16
Oberthema/Unterthema:
Füße, die sprechen? – Was sagen sie euch? Ein künstlerisches Projekt zu Skulpturen im Bode-Museum
Autor*innen der Dokumentation:
Felicitas Fritsche-Reyrink, Tanja Schomaker
Sharon Macdonald

Mit Füßen sprechen

Wie können Museen die Besucher*innen ermutigen, Ausstellungsgegenstände mit frischem Blick und nicht durch die gewohnte Brille zu betrachten? Wie können Museen die Besucher*innen in neue „Gespräche“ mit den Objekten verwickeln? Mathilde ter Heijnes Arbeit Talking Feet zeigt uns einige Möglichkeiten auf. Sie lässt in ihrer Arbeit Füße erzählen und verschiebt somit unseren Blickwinkel, lässt uns auf andere Art und Weise hinschauen – und zuhören –, so dass wir dabei auch erkennen, wem und was wir für gewöhnlich Aufmerksamkeit schenken. Vielleicht achten manche Besucher*innen im Museum sowieso auf die Füße der Statuen: für kleinere Kinder sind sie zum Beispiel auf Augenhöhe, andere hegen vielleicht eine besondere Vorliebe für Füße – die Podophilisten oder Fußfetischisten. Im normalen Alltag hingegen wird den Füßen keine große Beachtung geschenkt – es sei denn, sie werden uns zum Beispiel, wenn wir uns eine Blase laufen oder versuchen, neue Tanzschritte zu erlernen, ins Bewusstsein gerufen. Meistens jedoch unterdrückt sie unsere Aufmerksamkeitsökonomie, drängt sie ins Abseits. Das englische Wort pedestrian für Fußgänger bedeutet nicht nur „ein Mensch, der zu Fuß geht“, sondern auch „ein Mensch, der systematisch, fantasielos und langweilig vorgeht“ (auf Deutsch: Pedant). Wie unfair ist das gegenüber den Füßen!

Das Projekt Talking Feet rückt die Füße ins Rampenlicht und zeigt, wie viel ausgerechnet sie erzählen können – wie interessant und vielseitig sie sind. Der Forderung des Neuen Materialismus folgend, „den Objekten das zu geben, was ihnen zusteht“, erkennt das Projekt ihre potenziellen Wirkmächte an und setzt sie sogar frei.1 Das heißt, wenn wir Füße beachten, werden wir uns ihrer nicht nur bewusst, sondern auch ihrer Macht, uns zu bewegen – sowohl physisch als auch emotional. Gleichzeitig gibt uns Talking Feet den Anstoß, darüber nachzudenken, was wir sehen und was wir normalerweise nicht beachten, was wir erwarten zu hören und von woher. Wenn sich unsere Füße erst einmal bemerkbar gemacht haben, spüren wir unser Gewicht auf unseren Fußsohlen und hören unsere Schritte während wir durch das Museum gehen. Anders gesagt, Talking Feet kann unsere Sinneswahrnehmung wachkitzeln. Und vielleicht kann uns das Projekt den Anreiz geben nachzuforschen, welchem unserer Sinne wir normalerweise beim Besuch im Museum den Vorzug geben und wie wir umswitchen können – um uns dann auf andere Weise einzulassen.2

Eine wissenschaftliche Studie über die Platzierung von Statuen in Museen weist darauf hin, dass der Blick der Besucher*innen unbewusst nach oben wandert, wenn sich die Blickrichtungen verschiedener Figuren kreuzen.3 Wenn das vorkommt, scheinen die Figuren eine Art stumme Konversation zu führen. Ist es vorstellbar, dass Füße genauso miteinander sprechen? Oder würde das eher dazu führen, dass wir die Laufrichtung erahnen, in die die Füße den zugehörigen Körper tragen würden? Wem würden sie in der Ausstellung noch begegnen, wenn sie in diese Richtung weitergingen? Oder würden sie gar ausbrechen? Wen oder was würden sie treffen und welche Gespräche führen? Finger zeigen explizit Richtungen an – sie weisen in eine bestimmte Richtung oder auf bestimmte Gegenstände. Auch Füße tun das, wenn auch implizit – ohne großes Theater. Werden wir, wenn wir die Fähigkeit der Füße, Hinweise zu geben beachten, offener dafür sein, ihnen auf neue Wege des Umgangs zu folgen?

Indem Mathilde ter Heijne die Füße als etwas behandelt, das von ihren Körpern abtrennbar ist, wirft sie auch die ontologische Frage auf, woraus ein Objekt besteht und wie sich die Bestandteile zum Ganzen verhalten.4 Wo beginnt und endet ein Objekt? Wie viel kann man davon wegnehmen, bevor es nicht mehr das ist, was es vorher war? Und welche Stellung hat das Fragment: Wann bekommt das, was zuvor Teil eines größeren Ganzen war, wieder seine eigene Autonomie zurück? In Talking Feet werden die Füße natürlich nicht wirklich abgetrennt, sondern nachgebildet und nur diese Doppelgänger dürfen sich von den Körpern, zu denen sie normalerweise gehören, entfernen. Trotzdem wirft das dieselben Fragen auf. Das Projekt lässt an Kinderspiele denken, bei denen man verschiedene Köpfe, Körper und Beine vertauschen kann und so neue, seltsame Wesen kreiert. Könnten wir die Teile im Museum vermischen und welche Auswirkung hätte das? Und was würden die Füße wohl dazu sagen, wenn sie an einen anderen Körper angeklebt würden oder auf einen Spaziergang geführt würden – was im Talking Feet-Projekt passieren kann.

Als Nachbildung ist es den Füßen erlaubt, sich zu lösen und eine Runde zu drehen. Die Eigenart und die Stellung von Repliken ist ein weiteres Diskussionsthema, das ein umfassendes Nachdenken in der Museumskunde und der Philosophie angestoßen hat. Der Echtheitskult um das Original, der nicht zuletzt von den Museen unserer Zeit verbreitet wird, bedeutet für die Nachbildungen – etwa der Füße – dass sie geringgeschätzt werden. Doch das war nicht immer so. Im 19. Jahrhundert war es beispielsweise üblich, in Kunstmuseen Gipsabgüsse berühmter Skulpturen auszustellen. Das wurde gemeinhin als völlig akzeptabel erachtet, da es ermöglichte, Skulpturen als Gruppen vorzustellen und die Kunstwerke einem größeren Publikum zugänglich zu machen, als es je bei Originalen der Fall gewesen wäre. Berlin war ein bedeutendes Zentrum für die Produktion und Ausstellung solcher Repliken. Wilhelm von Bode (nach dem das Bode-Museum benannt ist) förderte sogar die „Verbreitung des Kanons der Gipssammlungen“ über Berlin hinaus in andere Länder.5 Die 1819 gegründete Berliner Gipsformerei – eine Werkstatt für Gipsnachbildungen – existiert bis heute und ist für ihre kunstfertigen Gipskopien bekannt.6 Mathilde ter Heijne stellt das Reisepotenzial der Gipsrepliken wieder her – und zwar nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Mauern des Museums. Aus sprechenden Füßen werden gehende Füße. Jetzt entkommen die nachgebildeten Füße mithilfe von Schulkindern dem Museum und werden an Orte – und in Gespräche – gebracht, die sie nie vorher erlebt haben.

In dieser Aktion – dem Verlassen der üblichen Räume und gewohnten Regeln des Museums – überschreiten nicht nur die Füße Grenzen, sondern gewissermaßen auch das Museum selbst. Die gewohnten Beschränkungen werden übersprungen oder sogar gesprengt. Und wer weiß, welche neuen Ideen, Wünsche und Anstöße diejenigen mit den Füßen austauschen werden, die ihnen auf ihrer Reise begegnen?

Fußnoten
  1. Diana Coole und Samantha Frost: Introducing the new materialisms. In: Diana Coole und Samantha Frost (Hg.): New Materialisms: Ontology, Agency, and Politics. New York, USA 2010, S. 1–44.
  2. Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage (CARMAH): Otherwise: Rethinking Museums and Heritage. Berlin 2018. Online unter: https://www.carmah.berlin/wp-content/uploads/2017/10/Carmah_Paper-1.pdf. Siehe auch: Jeffrey David Feldman: Contact points: museums and the lost body problem. In: Elizabeth Edwards, Chris Gosden und Ruth B.Philips (Hg.): Sensible Objects. Colonialism, Museums and Material Culture. Oxford 2006.
  3. Bill Hillier und Kali Tzortzi: Space syntax: the language of museum space. In: Sharon Macdonald (Hg.): A Companion to Museum Studies. New York 2006.
  4. Siehe z. B. Graham Oddie: What do we see in museums? In: Victoria S. Harrison, Anna Bergqvist und Gary Kemp (Hg.): Philosophy and Museums: Essays on the Philosophy of Museums. London 2016, S. 79.
  5. Zit. n. Zsófia Bognár und Andrea Rózsavölgyi: The collection of Mediaeval and Renaissance plaster casts of the Budapest Museum of Fine Arts. Hungarian Review, VII (2), 2016. Online unter: http://www.hungarianreview.com/article/20160311_the_collection_of_medieval_and_renaissance_plaster_casts_of_the_budapest_museum_of_fine_arts#sdendnote1sym, abgerufen am 9.7.2021. Siehe auch Claudia Sedlarz: Incorporating antiquity – the Berlin Academy of Arts’ plaster cast collection from 1786 until 1815: acquisition, use and interpretation. In: Rune Frederiksen und Eckart Marchand (Hg.): Plaster Casts Making, Collecting and Display from Classical Antiquity to the Present. Berlin & New York 2010. Übersetzung des Zitats aus dem Englischen ins Deutsche: Anne Pitz.
  6. https://www.smb.museum/en/museums-institutions/gipsformerei/about-us/profile/, abgerufen am 9.7.2021.
Greta Hoheisel und Tanja Schomaker

Talking Feet als künstlerische Kunstvermittlung

Mathilde ter Heijne war im Rahmen von lab.Bode – Initiative zur Stärkung der Vermittlungsarbeit in Museen als Künstlerin zu einer Residency ins Bode-Museum eingeladen, um die Skulpturensammlung aus ihrer Perspektive zu untersuchen und Ideen für ein partizipatives, künstlerisches Vermittlungsprojekt zu entwickeln. In der Regel bestimmen kunsthistorische Rezeptionen und Deutungen das Verständnis und den Umgang mit Kunst im Museum. Fragen von künstlerischer Wissensproduktion werden selten berücksichtigt, obwohl künstlerische Praxis durchaus als eine Form der Wissensproduktion verstanden werden kann: In künstlerischen Prozessen werden Objekte, Situationen und Lebenswirklichkeiten analysiert, hinterfragt und neue, häufig überraschende Sinn- und Bedeutungszusammenhänge hergestellt. Das Herstellen von diesen neuen Zusammenhängen ist auch in Bildungsprozessen von zentraler Bedeutung. Künstlerische Praxis kann deshalb für Bildungsprozesse produktiv gemacht werden. Wie dies gelingen kann, sollte im Vermittlungslabor am Bode-Museum beispielhaft gemeinsam mit der Künstlerin Mathilde ter Heijne erprobt werden.

Im Anschluss an ihre Residency, in der Mathilde ter Heijne die Ausstellungsräume und die Depots des Museums besuchte, zu einzelnen Objekten recherchierte sowie mit Mitarbeiter*innen vieler Abteilungen ins Gespräch kam, entwickelte sie das Projekt Talking Feet. Sie konzentrierte sich dabei auf ein eher selten betrachtetes Detail von Skulpturen: ihre Füße. Für das Projekt ließ sie Füße ausgewählter Kunstwerke nachformen, in Kunstharz abgießen und mit Miniaturhörspielen, Lautsprechern sowie einer Aufnahmefunktion ausstatten. Die Füße sollten in Workshops im Museum und in der Schule genutzt und von Schüler*innen um Perspektiven und Stimmen erweitert werden.

„Die Kunstwerke dürfen nicht berührt werden“ – diese Regel steht häufig am Anfang jeder Vermittlungssituation im Kunstmuseum. Von den meisten Kindern und Jugendlichen akzeptiert und umgesetzt, wird der Wunsch eben dies zu tun, trotzdem artikuliert: Sie möchten den Tastsinn einsetzen, um die Materialität und Form des Werkes zu spüren. Schließlich sind gerade die Skulpturen im Bode-Museum durch die Arbeit mit den Händen entstanden und der Wunsch, sie auch über die Hände zu begreifen, scheint naheliegend. Die Talking Feet geben eine Antwort auf diesen Wunsch. Aufwendig abgeformt dürfen sie nicht nur berührt werden, das Anfassen ist sogar elementarer Bestandteil und Grundzug ihrer Existenz als Kunstwerk. Ohne den Playbutton zu drücken, den Fuß ans Ohr zu führen und ihn durch das Museum oder sogar die Schule zu tragen, wären sie bloßes Abbild eines bereits existierenden Skulpturenteils und nicht Teil eines eigenständigen partizipativen Kunstwerks. Kinder und Jugendliche haben in den Workshops die Talking Feet gern in die Hand genommen, sind mit ihnen durchs Museum gelaufen, haben ihr Ohr an das Objekt gelegt, haben Spaß daran gefunden, dass sich die Regeln hier ins Gegenteil verkehren und sich der Wunsch des Berührens der Kunst einlöst.

So erfährt die Erfahrung der Kunstbetrachtung auch eine sinnliche Erweiterung: Das Kunstwerk bekommt mit den Talking Feet einen Bezug zum eigenen Körper der*des Nutzers*in, setzt sich auf der Ebene der körperlichen Erfahrung in Relation zu eben diesem: kleine Füße, die sogar in Kinderhänden fast verschwinden, große, mächtige, schwere Stiefel, die sich nur zu zweit tragen lassen.

Und dann sind diese Füße auch noch laut. Sie singen, sie quasseln und schreien teilweise sogar. Sie stören die Ruhe im Museum und im Klassenzimmer. Drückt die*der Nutzer*in den Playbutton beginnt der Fuß zu sprechen. Er erzählt von sich, seiner Geschichte, seiner Herkunft oder Entstehung oder von verwunderlichen Details seines Aussehens. Das scheinbar stille Objekt beginnt zu sprechen und wirkt dabei als sei es endlich aus seiner Erstarrung befreit. Die kleinen Hörstücke ermöglichen es, in die Vergangenheit einzutauchen, die Entstehungsgeschichte, die Zusammenhänge der Skulptur zu verstehen und mögliche Bezüge zur Gegenwart herzustellen. Im Zentrum steht dabei nicht vorrangig die kunsthistorische Rezeption einer Skulptur oder die Biografie des Künstlers, vielmehr erzählt der Fuß eine eigene, subjektive Geschichte. Das Objekt haut raus, was es denkt und schreckt auch nicht davor zurück, Fragen zu stellen und sich damit in Relation zur*m Betrachter*in zu setzen. Den anderen Werken des Museums lassen sich in Vermittlungssituationen auch gemeinsam Fragen entlocken. Aber sie sprechen selten so unvermittelt und direkt die*den Betrachter*in an, fordern sie*ihn auf Stellung zu beziehen.

„Was machst du eigentlich bei Schmerz und Verzweiflung? Schreist du auch so?“, „Wie stellst du dir die Unterwelt vor?“, „Was macht Macht mit jemandem?“, „Wie passt das zusammen? Ein Heilger und Kampfes?“… Drücke den Aufnahmeknopf.

Die Talking Feet der Künstlerin Mathilde ter Heijne sind aktivierende Kunstwerke, die sich zwischen historischem Werk, den Museumsraum mit all seinen Regeln und die Betrachter*innen schalten. In den Zwischenräumen findet die Kunst statt. Und die Nutzer*innen sind Teil eben dieser Situation. Vermittler*innen haben in zahlreichen Workshops diesen Prozess initiiert und moderiert und den Rahmen geschaffen damit sich Kunst ereignen kann.